Kapitel 4 - Das Flüstern der Zeit
Die Tage vergingen zäh, während Hagen versuchte, sich von seinen Verletzungen zu erholen. Die Schmerzen ließen langsam nach, doch die Erinnerungen an das Unglück blieben unerbittlich präsent. In seinen Gedanken blitzten immer wieder Bruchstücke auf – das dumpfe Grollen des einstürzenden Stollens, das erschreckte Aufschreien der Männer, das abrupt verstummte. Er hatte überlebt, doch die stumme Anklage derer, die es nicht geschafft hatten, lastete schwer auf ihm.
Eines Nachmittags, als die Heilerin gerade seine Verbände wechselte, hörte Hagen am anderen Ende seines Bettes das leise Gespräch zweier Heiler. Ihre Stimmen waren gedämpft, doch ihre Worte hallten laut in seinem Kopf wider. „Der Graf hat es so befohlen,“ sagte der eine. „Die Stollen mussten wieder geöffnet werden, egal wie gefährlich es war. Die Nachfrage nach dem Rohstoff ist einfach zu groß.“ „Natürlich,“ erwiderte der andere mit einem zynischen Unterton. „Solange die Taschen des Grafen gefüllt bleiben, sind die Männer für ihn nur Mittel zum Zweck.“
Hagen starrte an die bröckelnde Decke, während die Worte auf ihn herabsanken wie schwere Steine. Es war also kein schicksalhafter Zufall gewesen, sondern eine Entscheidung aus purer Gier. Der Graf hatte die alten, längst stillgelegten Stollen wieder öffnen lassen, um den begehrten Rohstoff schneller und günstiger zu fördern. Die Warnungen der Bergleute und die Gefahr hatten ihn nicht interessiert. Für ihn zählten nur die Schätze tief im Innern des Berges, nicht die Leben derer, die sie unter größtem Risiko aus der Erde holten.
Er dachte an die mühsamen, langen Schichten im Dunkel der Stollen, das ständige Pochen der Spitzhacken, das Knirschen des Gesteins und die stickige Luft, die die Lungen füllte. Die Männer hatten gewusst, dass die Arbeiten gefährlich waren, aber sie hatten keine Wahl. Offener Widerstand gegen den Grafen war undenkbar – die Konsequenzen wären zu hart gewesen. Und so hatten sie weitergeschuftet, immer tiefer in den Berg hinein, jeder Hieb ein weiteres Echo der Befehle des Grafen. Die Gier war ein unsichtbarer Schatten gewesen, der über ihnen allen hing und sie in den Untergrund trieb.
Nun lag Hagen hier, mit dem Wissen, dass sie nur Schachfiguren in einem Spiel waren, das von oben gespielt wurde. Es ging nie um ihre Sicherheit oder ihr Leben – es ging immer nur um das, was aus dem Berg geholt werden konnte. Die Erschöpfung, die Angst, das Zittern in den Nächten, wenn die Wände zu beben schienen – all das war für den Grafen nichts weiter als ein unvermeidlicher Preis für den Reichtum, den er aus der Tiefe zog.
Die bittere Wahrheit drang in Hagens Bewusstsein wie ein schmerzhaftes Stechen: Der Graf hatte sie wissentlich in die Gefahr geschickt, und die Leben der Männer waren ihm genauso gleichgültig wie die zerbrochenen Werkzeuge, die achtlos beiseite geworfen wurden. Niemand würde den Grafen zur Rechenschaft ziehen, und der Berg würde weiterarbeiten, bis er alles genommen hatte, was es zu nehmen gab. Die Gier war größer als jede Warnung, jede menschliche Stimme, die daran zerbrach.agen vergrub sich in der harten Routine der Heilung, die weit entfernt von Trost und Erholung war. Die Schmerzen in seinem Körper ließen langsam nach, doch die Tortur, die damit verbunden war, machte ihm das Leben schwer. Die Verbände wurden regelmäßig gewechselt, ein schmerzhafter Prozess, bei dem die alten, verkrusteten Schichten abgezogen und frische, mit bitter riechenden Salben getränkte Lagen angelegt wurden. Jeder Wechsel brannte wie Feuer, als ob die Wunden sich jedes Mal aufs Neue öffneten. Die Heiler arbeiteten schnell und schweigend, ihre Bewegungen grob und routiniert, als wäre er nur eine weitere Aufgabe in einer endlosen Reihe von Verletzten.
Die Luft im Raum war schwer und stickig, getränkt von den Gerüchen von Eiter, altem Blut und dem beizenden Gestank von Desinfektionsmitteln. Fliegen summten um die Wunden, und die Hitze des Fiebers, das ihn immer wieder überkam, ließ ihn in Schweiß ausbrechen. Die Nächte waren die schlimmsten: Fieberträume durchzuckten ihn, und er erwachte oft, schweißgebadet und wirr, die Hitze wie eine Last auf seiner Brust. Es gab keine Linderung, nur die kratzigen Laken, die an seiner Haut rieben, und das endlose Warten auf den nächsten Tag.
Die Heilerin zwang ihn, sich aufzurichten, sein Gewicht auf die verbliebene Hand zu stützen und langsam die ersten Bewegungen zu machen. Es fühlte sich an, als trüge er eine unsichtbare Last, die ihn bei jedem Schritt niederdrückte. Die Muskeln zogen sich schmerzhaft zusammen, seine Glieder fühlten sich wie fremd an. Doch er biss die Zähne zusammen, den Blick stur auf den harten Boden gerichtet, und zwang sich, weiterzumachen. Jede Bewegung war ein Kampf gegen seinen eigenen Körper, ein ständiges Ringen um die Kontrolle über das, was ihm noch geblieben war.
Der alte Mann neben ihm, dessen Sanduhr fast leer war, sprach nicht mehr. Die Heiler kümmerten sich kaum um ihn; seine Zeit war fast abgelaufen, und das wussten sie alle. Er lag da, still und leise, sein Atem flach und unregelmäßig, als hätte auch er akzeptiert, dass es keinen Unterschied machte – ob heute oder morgen, das Ende würde kommen. Sein gelegentliches Husten klang hohl und erschöpft, als ob selbst der Atem eine Last war, die er nicht mehr lange tragen wollte.
Die anderen Patienten kamen und gingen. Manche überlebten, viele nicht. Hagen sah, wie sie still davongingen, leise wie das Rauschen der Sandkörner in den Uhren an der Wand. Er beobachtete, wie die Heiler neue Körper brachten und die Alten hinaustrugen, ohne viel Aufhebens. Es war ein kalter, unbarmherziger Kreislauf – Leben kamen und verloschen wieder, gleichgültig und ohne Bedeutung. Manchmal fragte sich Hagen, woher dieser Lebenswille kam, der ihn weitermachen ließ. Er wusste es nicht. Es gab nichts, was ihn wirklich hielt, keine Hoffnung, kein Ziel. Es war einfach ein Überleben aus Instinkt, ein verbissener Kampf gegen die Unabwendbarkeit des Todes. Jeder Atemzug, den er nahm, schien ein Sieg zu sein, doch er fühlte sich hohl an. Vielleicht war es der Trotz, der ihn antrieb, oder vielleicht war es einfach die Angst vor dem Nichts, das auf ihn wartete. Doch egal was es war, er hielt sich daran fest, klammerte sich an das letzte bisschen, das ihn noch aufrecht hielt, während um ihn herum das Leben leise versickerte wie der Sand in den Uhren an der Wand.Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fenster des Lazaretts. Draußen war die Welt in Grau getaucht, und drinnen schien der Raum unter der schweren, feuchten Luft zu ertrinken. Die Feuchtigkeit kroch in Hagens Knochen, und die Zeit schien in quälender Langsamkeit voranzuschleichen. Sein Heilungsverlauf war ein mühsamer Prozess, geprägt von Schmerzen, Fieber und endlosen Verbandswechseln. Die Heilerin war unnachgiebig, zwang ihn dazu, sich zu bewegen, seine Muskeln zu dehnen, und sich an die neue Realität mit einer Hand zu gewöhnen. Jeder Schritt schien ein unmöglicher Kraftakt, doch er biss die Zähne zusammen und machte weiter.
Die Nächte waren eine Qual, durchsetzt von Fieberträumen, in denen er immer wieder die schrecklichen Bilder des Stollenunglücks durchlebte: herabstürzende Felsen, splitterndes Holz, das Kreischen der Stützen, die dem Druck der Erde nicht mehr standhielten. Doch da war noch etwas anderes, das in der Dunkelheit dieser Erinnerungen lauerte – ein winziger, fast vergessener Moment, der ihm plötzlich wie ein Stachel im Bewusstsein saß: der Gegenstand, den er inmitten des Chaos‘ in seine Tasche gesteckt hatte, kurz bevor die Welt über ihm zusammenbrach.
Mit einem keuchenden Atemzug fuhr er hoch. Sein Herz pochte laut und wild, seine Finger krallten sich in die raue Decke, während er versuchte, die fragmentierten Bilder in seinem Kopf zu ordnen. Was war das gewesen? Warum hatte er in der Panik nach etwas gegriffen und es behalten? Es war, als hätte er diesen Moment verdrängt, doch nun drängte sich die Erinnerung daran auf, schwer und fordernd. Er richtete seinen Blick auf den Stuhl neben seinem Bett, wo seine zerrissenen, verdreckten Kleider lagen. Seine Bewegungen waren langsam und zögerlich, jeder Atemzug schmerzte, als er seine verbliebene Hand ausstreckte. Er wühlte in den Taschen der Lumpen, sein Herz schlug schneller, als seine Finger auf etwas Hartes, Kaltes stießen. Er zog es behutsam heraus.
In seiner Hand lag der kleine, unscheinbare Gegenstand aus Metall, nun von dem Dreck und Staub befreit, der ihn umhüllt hatte. Als das silberne Glänzen der Uhr unter seiner Berührung zum Vorschein kam, bemerkte Hagen Details, die ihm bisher entgangen waren. Es war keine gewöhnliche Uhr. Die feinen Hebel, winzigen Knöpfe und Schalter, die sich an den Seiten des Gehäuses erstreckten, waren eine handwerkliche Meisterleistung, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Die präzisen Mechanismen wirkten fremdartig, fast wie das Werk eines Uhrmachers, dessen Kunstfertigkeit die Grenzen des Alltäglichen überschritt.
Hagen hielt den Atem an, als er die Uhr genauer untersuchte. Jeder Hebel, jeder Knopf war filigran gearbeitet, so klein und präzise, dass er kaum glauben konnte, sie mit bloßem Auge zu erkennen. Es war, als hätte ein Meister jedes Detail mit größter Sorgfalt und Geduld gefertigt, doch die Funktion der Knöpfe und Schalter blieb ihm ein Rätsel. Er drehte die Uhr in seinen Händen, suchte nach einer Möglichkeit, sie zu öffnen und einen Blick auf das Uhrwerk zu werfen. Doch es gab keinen Spalt, keine Naht, die verriet, wie man in das Innere gelangen könnte. Sie war vollständig versiegelt, als ob das Uhrwerk für immer verborgen bleiben sollte.Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn, als er die Uhr weiter betrachtete. Sie schien gleichzeitig bedeutungslos und von einer seltsamen Macht erfüllt zu sein, als hätte sie etwas zu verbergen, das nicht für seine Augen bestimmt war. Die Stille der stummen Zeiger, die auf eine Zeit deuteten, die nicht mehr existierte, bedrückte ihn. Was war es, das ihn in jenem Moment dazu gebracht hatte, die Uhr inmitten der Panik zu greifen? Es war kein Zufall, davon war er überzeugt. Sie war mehr als nur ein Gegenstand, sie war ein Teil des Puzzles, ein Bindeglied zu den Ereignissen, die ihn in diese dunkle, ungewisse Lage gebracht hatten.
Während er die Uhr in seiner Hand drehte, durchfuhr ihn erneut die lähmende Kälte des Stollens. Es war, als stünde er wieder dort, unter den herabstürzenden Felsen, im donnernden Chaos des einstürzenden Stollens. Das Gefühl des Eingeschlossenseins, das er in jenem Moment empfunden hatte, überkam ihn wieder. Die Uhr schien ihm zuzuflüstern, ihn an eine Wahrheit zu erinnern, die tief in seinem Gedächtnis vergraben lag. Er konnte sich nicht abwenden, konnte seinen Blick nicht lösen. Das silberne Glänzen, die unzähligen feinen Mechanismen – all das zog ihn in seinen Bann.
Hagen wusste nicht, woher dieser plötzliche Drang kam, weiterzuleben und die Rätsel zu lösen, die ihn umgaben. Er hatte alles verloren, was ihm wichtig war, und doch war da dieser unerschütterliche Wille, der ihn antrieb. Vielleicht war es nur der Instinkt, der tief in jedem Menschen schlummerte, vielleicht eine letzte, hartnäckige Hoffnung, die nicht erlöschen wollte. Er wusste es nicht, doch er hielt sich daran fest, an die feinen, rätselhaften Schalter der Uhr in seiner Hand, als wären sie der Schlüssel zu etwas Größerem, etwas, das sein Dasein inmitten der grauen, feuchten Wände des Lazaretts erträglicher machte.
So saß er da, in der trüben Beleuchtung des Lazaretts, den Blick auf das seltsame Stück Handwerkskunst gerichtet, das ihm so fremd und doch so vertraut vorkam. Die Uhr war still, doch in Hagen regte sich ein neues Gefühl, ein leises Flüstern, das ihm sagte, dass dies hier noch lange nicht das Ende war.
Plötzlich spürte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Langsam hob er den Kopf und sah, wie der alte Mann neben ihm, der wochenlang kaum einen Laut von sich gegeben hatte, nun aufrecht in seinem Bett saß. Die Haut des Alten war blass, beinahe wächsern, und seine Augen – einst trüb und leer – schimmerten nun in einem unheimlichen, fast geisterhaften Licht. Es wirkte, als ob der Mann tief aus einer anderen Welt in diesen Raum herüberblickte.
„Sie hat dich gefunden,“ flüsterte der Alte mit einer Stimme, die wie trockenes Rascheln klang. Seine Lippen bewegten sich kaum, und doch schien jedes Wort in der schweren Luft zu hängen. „Du weißt es nicht, oder?“ Seine Augen fixierten die silberne Uhr in seinen Händen.
Er schluckte hart, unfähig, sich zu rühren. „Was meinst du?“ brachte er mühsam hervor. „Was… ist das?“Der Alte lachte leise, ein kehliges, ungesundes Geräusch, als ob es ihm wehtat, zu atmen. „Eine Chrona,“ sagte er, das Wort rollte über seine Zunge, als wäre es eine Beschwörung. „Sie tickt nicht… nicht wie die anderen. Die Zeit… fließt anders um sie.“
Die Worte des Alten machten ihm keine klare Antwort. Stattdessen schienen sie das Rätsel nur noch weiter zu verdunkeln. „Was soll das bedeuten?“ fragte er zögernd, die Uhr in seiner Hand immer schwerer werdend. Das kalte Metall schien sich in seine Haut zu bohren, und dennoch konnte er sie nicht loslassen.
Der Alte lehnte sich näher, sein Gesicht jetzt nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Ein modriger Geruch drang von ihm aus, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch sie hallte in seinem Kopf wider. „Sie hat keine Zeit,“ flüsterte er. „Sie nimmt sie… gibt sie… verschlingt sie.“ Der Atem des Alten war kalt auf seiner Haut, und er spürte, wie ihm ein Schauer den Rücken hinunterlief. Die Augen des Mannes glitzerten jetzt fiebrig, als ob etwas Unnatürliches in ihm erwacht wäre. „Hüte dich vor ihr,“ sagte der Alte, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Man denkt, man hält sie… aber in Wahrheit hält sie dich.“
Bevor er antworten konnte, lehnte sich der Alte plötzlich zurück, als wäre die Anstrengung, zu sprechen, zu groß gewesen. Mit einem letzten, erschöpften Zucken der Lippen schloss er die Augen und ließ sich schwer in die Kissen sinken, seine Atmung flach und rau.
Er saß still da, die Uhr in seiner Hand, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Der Regen trommelte weiter auf das Dach, und der Raum schien wieder in die beklemmende Stille zurückzukehren. Doch jetzt war da etwas anderes – eine kalte Präsenz, die in seiner Hand wogte und seine Gedanken fesselte.
Er sah auf die kleine, silberne Uhr, die seltsam still in seiner Hand lag. Sie tickte nicht, doch er hatte das beunruhigende Gefühl, dass sie nicht schweigend blieb, sondern nur auf etwas wartete – auf den richtigen Moment.
Er saß still da, während die düsteren Worte des Alten in seinem Kopf widerhallten. Die kleine, silberne Uhr lag schwer in seiner Hand, als wäre sie aus mehr als bloß Metall geformt – als wäre sie ein Gegenstand voller Bedrohung. Um ihn herum schien die Zeit weiterzufließen, doch für ihn stand sie in diesem Moment still, unbemerkt von den anderen im Raum. Nach diesen unheimlichen Worten verfiel der alte Mann wieder in Schweigen. Die fiebrige Intensität in seinen Augen erlosch, und er kehrte zu der leblosen Hülle zurück, die er die Wochen zuvor gewesenwar. Kein Blick, kein Laut. Nur gelegentlich ein schwaches Husten, das die Stille durchbrach, doch selbst das wurde mit der Zeit seltener.
Er fragte sich oft, ob der alte Mann noch irgendetwas wahrnahm, ob er noch wachte oder bereits in eine andere Welt hinübergeglitten war. Aber es schien keine Antwort zu geben. Die Uhr lag sicher unter seinem Kissen verborgen, ein Geheimnis, das er mit niemandem teilte. Der alte Mann schien sich ohnehin nicht mehr darum zu kümmern. Er lag da, still und regungslos, wie einer der Schatten, die in seinen Träumen lauerten.
Die Tage zogen sich hin, zäh und gleichförmig. Draußen trommelte der Regen gegen die Fenster oder der Wind heulte über das Land. Das Lazarett war ein Ort des unaufhörlichen Kommens und Gehens. Sanduhren liefen ab, und Hagen beobachtete, wie Patienten entweder humpelnd entlassen wurden oder still auf Bahren hinausgetragen. Doch der alte Mann blieb – ein stummer Begleiter, dessen Sanduhr fast leer war, aber noch immer nicht ganz erloschen.
Jede Nacht, sobald Hagen sicher war, dass nur noch er wach war, griff er mit seiner verbliebenen Hand nach der seltsamen Uhr, die er aus dem Stollen gerettet hatte. Im schwachen Licht der flackernden Fackeln hielt er sie fest und studierte die feinen Mechanismen – die winzigen Hebel, Knöpfe und Schalter, die das Gehäuse zierten. Es war ein Rätsel, das ihn nicht losließ. Mit einer Hand war es schwer, die winzigen Schalter und Hebel zu bewegen, doch er gab nicht auf. Warum drehte er daran, warum betätigte er die Schalter? Er wusste es selbst nicht genau. Vielleicht hoffte er, dass plötzlich etwas passieren würde, dass die Uhr ihm ein Geheimnis offenbarte oder eine Bedeutung enthüllte, die ihm bisher verborgen geblieben war.
Mühsam drückte er die Knöpfe, drehte an den Hebeln und schob die Schalter hin und her, so gut es mit nur einer Hand ging. Doch nichts geschah. Die Uhr blieb stumm, ihre Zeiger regungslos, als ob sie sich weigerten, weiterzugehen. Dennoch hielt Hagen in diesen nächtlichen Stunden an ihr fest, als wäre sie mehr als nur ein metallener Gegenstand. Sie war sein stiller Begleiter, eine Art Kompass in der Dunkelheit, auch wenn er nicht wusste, wohin sie ihn führen sollte. In einer regennassen Nacht, als die Dunkelheit das Lazarett erstickte und das Trommeln des Regens das einzige Geräusch war, geschah es. Plötzlich schoss der alte Mann aufrecht in seinem Bett hoch, seine Augen weit aufgerissen, als ob er gegen etwas Unsichtbares kämpfte. Sein Atem ging stoßweise, und dann, mit rauer, heiserer Stimme, schrie er einen Namen heraus, der wie ein Echo im Raum widerhallte. „Gehe nach Verathar!“ Die Worte zerschnitten die Dunkelheit, als hätten sie eine eigene Schwere. Der Name füllte den Raum, mehr als bloß ein Wort – eher eine uralte Beschwörung, eine Botschaft aus einer längst vergessenen Zeit. Der alte Mann fiel zurück auf sein Kissen, seine Augen glasig und leer, als wäre ihm die letzte Kraft endgültig entzogen worden.
Hagen hielt die Uhr noch immer fest in seiner Hand, sein Griff um das kalte Metall wurde fester, als er die Worte des Mannes in sich aufnahm. „Verathar“ – der Name hallte in seinem Kopf nach, während erauf die leere Sanduhr des alten Mannes starrte, deren letzte Körnchen nun still verharrten. Etwas regte sich in ihm, ein leises, unerklärliches Ziehen, das ihn nicht losließ. Er wusste nicht, warum dieser Moment so bedeutend schien, doch tief in seinem Inneren spürte er, dass die Uhr, der Name und das düstere Schicksal des alten Mannes miteinander verbunden waren. Was auch immer in Verathar auf ihn wartete, Hagen hatte das Gefühl, dass er irgendwann dorthin gehen musste. Die Uhr in seiner Hand lag schwer, als wäre sie mehr als nur ein Überbleibsel aus dem Stollen. In der nächtlichen Stille, begleitet vom unablässigen Trommeln des Regens, fasste er den Entschluss, diesem seltsamen Namen nachzugehen – nicht aus einem großen Plan heraus, sondern weil es sich richtig anfühlte, einfach der nächste Schritt in einer Reihe von Entscheidungen, die ihm geblieben waren.
Am nächsten Morgen, als die ersten blassen Sonnenstrahlen durch die schmalen Fenster des Lazaretts drangen, spürte er sofort, dass etwas anders war. Die vertraute, schwache Bewegung der Brust des alten Mannes – das leichte Heben und Senken, das Hagen fast beruhigend geworden war – fehlte. Der Raum wirkte kühler und stiller, als wäre jede Wärme mit dem letzten Atemzug des Alten verschwunden. Die Sanduhr neben dem Bett des Mannes stand still. Das letzte Sandkorn war gefallen, und der alte Mann atmete nicht mehr.
Hagen schloss die Augen und atmete tief durch. Kein Drama, kein erleuchtender Moment, nur die schlichte, harte Wahrheit, die er jeden Tag sah: Manche überleben, manche nicht. Wer war dieser Mann? Was hatte er durchgemacht? Hatte er jemanden gehabt, der ihn vermisste? Hagen wusste, dass diese Fragen unbeantwortet bleiben würden, verschwunden mit dem Alten in die Stille. Doch ein Wort hatte der Mann hinterlassen: „Verathar“. Es hallte in Hagens Gedanken, ein Rätsel, das nach einer Antwort verlangte, selbst wenn er noch nicht wusste, was es bedeutete oder warum es ihn überhaupt kümmern sollte.
So hielt Hagen die Uhr in seiner Hand und fühlte das Gewicht dieser unausgesprochenen Fragen. Vielleicht war Verathar nur ein weiterer vergeblicher Gedanke in einer langen Reihe von Dingen, die ihm unerreichbar blieben. Aber inmitten des eintönigen Alltags im Lazarett war es auch ein winziger Funken von etwas anderem – und vielleicht war das genug, um weiterzumachen.