Die Glasdrachen | Die Ewigen Chroniken

Die Glasdrachen

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In den schimmernden Ausläufern der Monts Argentés, dort wo die Sonnenstrahlen auf kristallklare Wasserfälle treffen und das Echo von uralten Melodien in den Wäldern widerhallt, lebten die sagenumwobenen Glasdrachen. Ihre Körper waren durchsichtig wie Bergkristall, und ihre Schuppen reflektierten das Licht in allen Farben des Regenbogens. Man sagte, sie könnten die Zeit in ihren Schuppen einfangen, die Vergangenheit bewahren und die Zukunft erahnen.

In der nahegelegenen Stadt Blanchegarde lebte Léonie, ein aufgewecktes Mädchen mit funkelnden grünen Augen und einem Herzen voller Neugier. Sie liebte es, den Geschichten der Alten zu lauschen, besonders denen über die Glasdrachen. Während die anderen Kinder spielten, verbrachte sie Stunden in der Bibliothek oder streifte durch die umliegenden Wälder, immer auf der Suche nach dem Wunderbaren und Unerklärlichen.

Eines Tages bemerkte Léonie, dass die Zeit in Blanchegarde seltsam zu fließen schien. Die Uhren gingen rückwärts, Schatten bewegten sich entgegen der Sonne, und die Menschen vergaßen Gespräche, die sie gerade erst geführt hatten. Ihr Vater, der Uhrmacher der Stadt, schien besonders betroffen zu sein. Er verlor sich in endlosen Schleifen der Zeit, immer wieder dieselbe Feder spannend, ohne je die Uhr fertigzustellen.

Getrieben von Sorge und Neugier beschloss Léonie, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie erinnerte sich an die Geschichten über die Glasdrachen und vermutete, dass sie etwas mit den Zeitverzerrungen zu tun haben könnten. Ohne zu zögern packte sie einen kleinen Rucksack mit Proviant und machte sich auf den Weg in die Berge.

Die Wanderung war beschwerlich, aber die Landschaft war atemberaubend. Während sie höher stieg, schien die Welt um sie herum stiller zu werden. Die Geräusche der Stadt verblassten, ersetzt durch das sanfte Flüstern des Windes und das entfernte Plätschern von Bächen.

Plötzlich bemerkte sie ein flackerndes Licht zwischen den Bäumen. Als sie näher kam, sah sie ihn: den ältesten der Glasdrachen, Graudur. Sein Körper funkelte wie tausend Sterne, und obwohl er riesig war, strahlte er eine sanfte Ruhe aus.

“Ah, Besuch…” murmelte Graudur mit tiefer, langsamer Stimme. “Es ist lange her… oder war es gestern? Hmmm… die Zeit spielt uns allen Streiche.”

Léonie trat vorsichtig näher. “Entschuldigt bitte, ehrwürdiger Drache. Ich bin Léonie, und ich suche nach Antworten. In meiner Stadt spielt die Zeit verrückt, und ich glaube, es hat mit euren Schuppen zu tun.”

Graudur blinzelte langsam und lächelte. “Meine Schuppen? Ach ja, die Schuppen… sie sind schön, nicht wahr? Sammeln das Licht, die Zeit, die Erinnerungen… Aber manchmal geraten Dinge aus dem Gleichgewicht.”

Er schien kurz in Gedanken zu versinken. “Wusstest du, dass die Sterne singen? Damals, als ich jung war, habe ich ihr Lied gehört… Oder war das ein Traum?”

Léonie musste schmunzeln. “Vielleicht könnt ihr mir helfen, den Fluss der Zeit wiederherzustellen? Mein Vater und viele andere sind gefangen und finden nicht zurück.”

Graudur nickte langsam. “Die Menschen sind immer so eilig. Dabei ist die Zeit wie ein Fluss – man kann sie nicht aufhalten, nur mit ihr schwimmen. Aber wenn jemand eine meiner Schuppen entwendet hat, kann das das Gleichgewicht stören.”

“Ein Alchemist aus unserer Stadt sprach von Unsterblichkeit und verschwand vor einigen Tagen”, erinnerte sich Léonie laut.

“Ah, der Alchemist… immer auf der Suche nach dem ewigen Leben. Dabei übersieht er das Leben selbst”, seufzte Graudur. “Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, muss die Schuppe zurückkehren. Aber vielleicht… vielleicht gibt es einen anderen Weg.”

Er begann, eine Melodie zu summen, die wie das Flüstern des Windes und das Murmeln eines Baches klang. “Dieses Lied… es bindet die Zeit und heilt die Wunden, die Gier geschlagen hat.”

Léonie lauschte aufmerksam und spürte, wie die Melodie ihr Herz erfüllte. “Soll ich es singen?”

“Ja, kleines Herz. Singe es mit reinem Geist, und die Zeit wird ihren Weg finden.”

Sie bedankte sich tief bei Graudur und machte sich auf den Rückweg. Unterwegs sang sie das Lied, leise zuerst, dann immer selbstbewusster. Die Bäume schienen sich zu wiegen, und die Tiere hielten inne, um zuzuhören.

Als sie Blanchegarde erreichte, bemerkte sie, dass die Uhren wieder normal tickten. Die Menschen schienen erleichtert, auch wenn sie nicht genau wussten, warum. Ihr Vater stand vor seinem Laden und blickte verwirrt, aber glücklich um sich.

“Léonie! Wo warst du? Ich habe das Gefühl, dich ewig nicht gesehen zu haben”, rief er ihr entgegen.

Sie lächelte. “Ich habe nur einen kleinen Spaziergang gemacht. Aber sag, wie geht es dir?”

Er lachte. “Seltsam, ich fühle mich, als hätte ich einen langen Traum gehabt. Aber jetzt ist alles klar.”

In den folgenden Tagen kehrte die Normalität zurück, doch Léonie wusste, dass es mehr gab, als die Menschen ahnten. Sie dachte oft an Graudur und seine weisen, wenn auch verschlungenen Worte.

Eines Nachts, als die Sterne besonders hell funkelten, hörte sie in der Ferne ein leises Summen. Es war die Melodie, die Graudur ihr beigebracht hatte. Sie schloss die Augen und wusste, dass die Glasdrachen weiterhin über die Zeit wachten, sanft und unbemerkt.